VT_aka_visuelles Tagebuch​ – Intermediale Bildlichkeiten(en)

 

 

Visuelles Tagebuch (Auswahl) 

 

Ikarus (Verlorene Träume)

In meinem Haus gibt es einen Raum, der ist hell und licht. Ich weiß nicht in welchem Stockwerk er sich befindet. Ich sehne mich nach ihm und seinem Sonnenlicht. Das mich wärmt. Überall hin soll es fluten, das Licht. … Mein Herz ist schwer. Ein Klumpen getrockneten Blutes. Ich zerbrösele es mit meinen Fingern und es zerfällt zu Staub. Danach laufe ich auf einer Sommerwiese in einem leichten Sommerkleid. Ich bin blond und habe einen Strohhut auf. Vielleicht bin ich eine Andere geworden.   

 

Auf der Suche nach der Wahrheit verbrannte Ikarus. Seine Flügel schmolzen, die Sonne schien und er stürzte ab. Die Wahrheit ist ein Nichts. Schwarz. Unendlich. Grenzenlos. Fallend fallen und er löst sich auf, der Staub der Andromeda. Zerbröselnde Herzen immerdar. Und fort geschritten: Zeit. Realität des fernen Scheins. Zeig´ Dich mir im Spiel der neuen Zeit. Vorbei die Zeit der Täuschung. Träume immerfort träumend, werde ich meiner Selbst gewahr. Vorbei die Zeit der Tage, an denen ich die laue Luft der Liebe genoss, vorbei die Zeit der Illusion. Ich lebe, sagt mein Herz und ich vergesse, dass es weh tut.   

 

Diese unerreichbare Ferne in mir. Inmitten von Leben. Dahinter eine Tür, die gakst. Da sitze ich. An einem Tisch aus Holz. Ich bin fünf.  

1996

 

 

Eine ganz besondere Pflanze

Zart ist sie, und zäh. Ausdauernd und genügsam, kommt mit wenig Wasser und Nährstoffen aus, ist zugleich gierig und selbsterhaltend und saugt auch aus dem kärgsten Boden, was sie braucht. Gedeiht im Schatten und genießt ihn ebenso wie die gleißende Sonne. In der kalten Nacht wärmt sie sich von innen als würde sie auf vergangene Wärmeempfindungen zurückgreifen können, Speicher der Liebe und des Lichts. Schnee betrachtet sie als besonders hübschen Mantel. Gegen Hagel leistet sie mit der gesamten Spannkraft ihrers Pflanzenkörpers elastischen Widerstand. Ihre Wurzeln geben ihr Halt, auch wenn der Untergrund flach, trocken und sandig ist; wenn er dagegen feucht und dunkel gerät, lässt sie sie tief in das Erdreich hinein fühlen und wachsen, um sich fest zu verankern. Sie liebt alle Jahreszeiten, den Winter wie den Sommer, den Frühling und den Herbst. Sie achtet auf die Verbreitung ihrer Samen ebenso wie sie sich den Bienen entgegenstreckt, die sie lockt mit der Farbe ihrer Blüten. Wäre sie keine Pflanze, sie wäre alles auf einmal: Mensch, Natur, Tier und Geschöpf. Der Wiesen und Wälder. Sie kennt den Wandel der Natur wie keine andere. Sie gibt sich ihm hin, mit dem gesamten Begehren ihres Seins. Im Winter sie schließt die Augen im Dunkeln der Erde. Und sie spürt früh die zarte Luft des Frühlings, um in seine Arme hinein zu wachsen. Der Sonne lacht sie freudig entgegen und breitet ihre Blätter und Blütenkelche aus, um sie herzlich und beinahe innig zu umarmen. Den Herbst begrüßt sie mit der milden Erschöpfung derjenigen, die ein satter Sommer erschöpft, dessen Gewitter sie stürmisch und übermütig geliebt hat. Und der Winter ist ihr Kamerad, den sie zu schätzen gelernt hat, weil er auch ohne Worte versteht und ihr ein Bett schenkt, das sie wieder verlassen darf, immer wieder auf´s Neue: Nach langem Schlaf gestärkt und mit frischer Kraft versehen für einen neuen Beginn, der sein Ende bereits in sich trägt. Darauf vertraut sie. 

2017  

 

 

Männliche Schönheit

Da stand er. Sie hatte ihn zunächst gar nicht gesehen. Vielmehr starrte sie irritiert auf zwei Müllcontainer, die mitten  auf der Straße abgestellt waren. Als sie den Blick hob, lachte er sie an, stand ihr frontal in etwa drei Metern Entfernung gegenüber und sie würde dieses Bild männlicher Attraktivität in den nächsten Tagen nicht vergessen (können). Die Selbstverständlichkeit mit der er leicht breitbeinig dort stehen blieb, die Arme hingen entspannt an den Seiten herunter. An seinem schönen Oberkörper mit diesen hinreißend breiten Schultern. So schön. Einfach ein außergewöhnlich attraktiver Mann stand da vor ihr und lachte sie an. Klar, direkt, unverhohlen und selbstbewusst. Schlank und großgewachsen. Und mindestens 20 Jahre jünger. 

2017

 

 

Blondinen und Brünette, Deutschland 2017

An der Kasse des Drogeriemarkts packte sie ihre Artikel ein und schaute auf die Schlangen, die sich an den beiden Kassen bildeten: Rechts die dunkelbraun-schwarzhaarigen Frauen mit ausnahmslos arabisch-muslimischen Kulturhintergrund und links die Blondinen. Zahlreiche deutsche Frauen ohne Migrationshintergrund waren darunter, sowie vermutet osteuropäische Frauen. Sie grinste angesichts dieses doch sehr anschaulichen Ausdrucks der (Auf)Teilung nach Kulturhintergrund. Im deutschen Alltag nach 2015. 

2017  

 

 

Herzstücke

Du warst ein Raubtier. Leidenschaftlich, liebenswert, stürmisch, kämpferisch. Und wild. Aber ein Raubtier. Keiner öffnete mir so sehr das Herz und keiner riss es mir in Stücken so heraus. 

2015

 

 

 

Weißer Hass

Der Hass war so kalt ab einem bestimmten Moment, dass kein Gefühl, keine Empfindung und kein Gedanke mehr aufkommen konnte. Ein Abgrund entstand, eine Leere, in der Nichts existierte. Kein Schwarz, keine Farben. Nur das heiß-kalte Weiß, das alles Leben zerstört und alles Lebendige für lange Zeit verhindert. … 

2017

 

 

Mathe-Leistungskurs

Mathe-LK. In der Oberstufe. Sie war gut im Rechnen, liebte Kurvendiskussionen und Differentialrechnung. Aber definitiv nicht klar kam sie mit Wahrscheinlichkeitsrechnen. Dieses Teilgebiet der Mathematik bei dem all diejenigen, die sonst Probleme mit dem Fach hatten, aufatmeten, durchstarteten und mit Rechnen loslegten, blieb ihr abgrundtief unverständlich. Sie liebte Ordnung und Struktur. Gewissheiten und Verbindlichkeit. Regeln, an die sich alle hielten. Was, dachte sie am Morgen, wenn der zukünftige Abschnitt meines Lebens wie Wahrscheinlichkeitsrechnung verlief. Sie fühlte Panik in sich aufsteigen. 

2017  

 

 

Kunst und Illusion

Die Illusion ist Technik und Raum. Die Zeit, die vergeht, holt das Kunstwerk ein. Aufgehoben im Schoß der Welt möchte ich die sein, die malend schreit. Jeden Morgen neu, tauche ich ein, ins Licht der Welt und der Sonne Strahlen retten meine Haut. Schreibend werde ich nicht weitergehen, nur suchend nach dem wahren Grund, entscheide ich mich für das Leben. Loslassen von einem Traum, gehe ich fort, weiß nicht wohin, der Wind mich treibt und wo ich begraben werde, in absehbarer Zeit. Und statt zu trauern, werde ich vertrauen.   

1996

 

 

 

 

 

 

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© Sabine Ullrich Kunst